Helvetzide

Helvetzide sind systematische Todesursachen von rassifizierten Menschen, die in polizeilicher Untersuchungshaft, in Flüchtlingszentren und in Spitälern in der Schweiz stattfinden. Und diese Tötungen sind nicht einfach Einzelfälle. Sie sind Ausdruck des strukturellen Rassismus und der herrschenden Ausschaffungspolitik, welche die Schweizer Gesellschaft und die staatlichen Institutionen prägen. Wir fordern das Ende rassistischer Gewalt!

#SayTheirNames

Wir sind wütend und trauern um jene, die weltweit durch rassistische Polizeigewalt ums Leben gekommen sind. Wir trauern nicht nur um George Floyd, Tony McDade, Breonna Taylor oder Ahmaud Arbery, die in den letzten Wochen in den USA von Polizist*innen oder durch Bürgerwehren getötet wurden. Wir trauern nicht nur um die vielen Menschen, die in anderen Ländern ums Leben gebracht wurden, wie Achidi John, Laya-Alama Condé, Ndeye Marieme Sarr, Christy Schwundeck, Yaya Jabbie oder Amad Ahmad und Oury Jalloh in Deutschland. Wir trauern auch um jene Menschen, die in der Schweiz durch rassistische Gewalt getötet wurden, wie Khaled Abuzarifa, Samson Chukwu, Cemal G., Hamid Bakiri, Claudio M., Yaya Bakayoko, Ousman Sow, Alhusein Douto Kora, Mariame Souaré, Abdi Daud, Andy Bestman, Joseph Ndukaku Chiakwa, Medina Yassin Suleyman, Oleg N., Ilhan O., Hervé Mandundu, Subramaniam H., Lamin Fatty, Mike Ben Peter, Salah Tebbouche, Roger Nzoy, Sezgin Dağ, Nesurasa Rasanayagam und viele andere. Die meisten rassistischen Gewaltvorfälle werden nie öffentlich bekannt, viele werden zudem unsichtbar gemacht. Für Personen, die diese Gewalterfahrungen erleben müssen, bestehen jedoch kaum Möglichkeiten, dass ihre Erlebnisse gehört, und die Verantwortlichen sanktioniert werden.

Wir fordern

  • dass sämtliche bisherigen Todesfälle in Folge von Polizeieinsätzen, auf der Polizeiwache in Polizeigewahrsam und in Flüchtlingszentren durch eine unabhängige, speziell dafür eingesetzte Expert:innen-Kommission untersucht werden. Diese Kommission muss befähigt sein alle beteiligten Personen und Institutionen sowohl ethisch als auch juristisch zur Verantwortung zu ziehen sowie Wiedergutmachung durchzusetzen;
  • dass eine zivilgesellschaftliche, unabhängige Stelle gegen Polizeigewalt staatlich finanziert wird, um Racial Profiling und Fälle von Polizeigewalt systematisch zu erfassen;
  • einen sofortigen Stopp aller Ausschaffungen sowie die Abschaffung der Administrativhaft und des Nothilferegimes

APPELL DE

APPELL EN

APPELL IT

APPELL RM

APPELL ES

Todesfälle durch institutionellen Rassismus

Nesurasa Rasanayagam

Nesurasa Rasanayagam

Am 15. Februar 2022 wurde Nesurasa zuletzt von einem Zimmermitbewohner gesehen. Sein Leichnam wurde erst am Freitag darauf auf dem Feld ungefähr 500m vom Rückkehrlager Gampelen entfernt gefunden. Erst nach zwei Wochen Druck auf die Behörden durch Mitglieder von Stop Isolation wurde Nesurasas Tod der Familie offiziell von den Schweizer Behörden mitgeteilt. Ohne die genaue Todesursache und den Todeszeitpunkt zu kennen, liessen die Behörden den Leichnam von Nesurasa kremieren, obwohl seine Familie dies ausdrücklich nicht wollte! Dem Wunsch der Familie, eine Autopsie durchzuführen und den Leichnam nach Sri Lanka zu transportieren wurde nicht nachgegangen: dies war laut dem Migrationsdienst zu teuer. Nesurasa war verheiratet und hatte drei Kinder. Als illegalisierte Person durfte er nicht arbeiten. Für Nesurasas Freund:innen und Familie steht fest, dass die zuständigen Behörden und das Schweizer Asylsystem mitverantwortlich für seinen Tod sind. Nesurasas Tod ist ein Helvetzid!

Roger Nzoy

Roger Nzoy

Roger Nzoy traf es am 30. August 2021 am Bahnhof Morges. Der 37-jährige Schwarze Mann aus Zürich litt an psychischen Problemen und war an jenem Montagabend zur Stosszeit auf den Gleisen herumspaziert. Jemand verständigte die Polizei. Als diese eintraf, schoss dreimal auf ihn. Videos dokumentieren den tödlichen Vorfall. Und zeigen auch die Momente nach den Schüssen: Während vier Minuten wird Roger Nzoy nicht reanimiert, ihm werden Handschellen angelegt. Der Tod von Roger Nzoy erinnert an einen anderen Schwarze Mann, fast identischen Fall: Im November 2016 erschoss dreimal ein Polizist in Bex Hervé Mandundu vor dessen Wohnungstür. Nzoys Tod ist ein Helvetzid!

Salah Tebbouche

Salah Tebbouche

Am 30. Dezember um 8.30 Uhr wird Saleh T.* in einer Zelle im Basler Gefängnis Bässlergut tot aufgefunden. Es handelt ich um einen Helvetzid. Das Bässlergut ist einerseits Ausschaffungsgefängnis, andererseits sitzen hier Inhaftierte kurze Haftstrafen ab. Djafar Mohammed kannte Saleh T. so gut, dass er ihn «einen Freund» nennt. Bei einem Gefängnisbesuch Mitte Januar sagt er: «Saleh war eine herzliche Person.» Saleh T. und Mohammed teilten sich im vergangenen Jahr eine Zelle im Basler Gefängnis Waaghof. Sie hätten damals jeden Tag Karten gespielt, erzählt er. T. habe aber auch oft still dagesessen, manchmal habe er im Koran gelesen, manchmal geweint. Djafar Mohammed wurde mittlerweile nach Spanien ausgeschafft. Mehrere Inhaftierte sagen bei Problemen würden vor allem Medikamente angeboten. Oft verstehe man gar nicht, was man bekomme. Manche trauten den Angaben nicht, weil sie ihre Medikamente nie verpackt sähen. Salahs Tod ist ein Helvetzid!

Mike Ben Peter

Mike Ben Peter

Mike Ben Peter stirbt am 28. Februar 2018 in Lausanne, nachdem sechs Polizisten minutenlang auf ihn knien. Sechs Minuten liegt der Nigerianer Mike Ben Peter nahe des Lausanner Bahnhofs mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt. Auf ihm das Gewicht von sechs Polizisten, die ihn zu Boden drücken. Zuvor sollen die Beamten ihn solange in die Genitalien getreten haben. Mike Ben Peter erleidet vor Ort im Beisein der Polizisten einen Zusammenbruch. Zwölf Stunden später stirbt er im Universitätsspital an einem Herzstillstand. Der Fall weist frappierende Ähnlichkeit zum Tod von George Floyd (†46) in Minnesota (USA) auf, der in der ganzen Welt zu Massenprotesten führt. Mikes Tod ist ein Helvetzid!

Lamin Fatty

Lamin Fatty

Lamin Fatty war ein 23-Jähriger, als er am 24.10.2017 in einer Schweizer Zelle in Mont-sur-Lausanne durch einen Helvetzid starb. Lamins Tod ist ein Helvetzid!

Subramaniam H.

Subramaniam H.

Der seit 2015 auf sein Asylgesuch vom SEM (Bundesamt für Migration) wartende Subramaniam H. wurde am 06.10.2017 vom einem Tessiner Kantonspolizist in Brissago durch einen Schuss in die Brust getötet. Subramaniams Tod ist ein Helvetzid!

Susanna mit 18

Susanna mit 18

Susanna drohe die Ausschaffung. Sie wisse nicht mehr weiter. Sie möchte endlich eine Antwort auf die Frage, die sie seit Jahren beschäftigt: «Wieso habe ich nicht die gleichen Rechte wie alle anderen?»

Fünf Tage vor ihrem 16. Geburtstag schreibt ihre Psychiaterin dem Migrationsamt Thurgau einen Brief. Susanna habe massive Zukunftsängste, die vor allem mit ihrem Aufenthaltsstatus zu tun hätten. «Aus fachärztlicher Sicht empfehlen wir eine definitive Aufenthaltsbewilligung für Susanna, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich psychisch zu stabilisieren und die Aufgabe ‹Leben› gut meistern zu können.»

Das Migrationsamt lehnt das Gesuch ab. Es sei wohl der zehnte negative Bescheid gewesen, sagt Susanna. Jedes Jahr mit derselben Begründung. Da sie minderjährig ist, wird ihr Gesuch an jenes ihrer Mutter gekoppelt. Wegen Sozialhilfeschulden und kleinerer Delikte erfüllt die Mutter die Voraussetzungen für eine reguläre Aufenthaltsbewilligung nicht. Daran ändern auch die Rekurse der Anwälte nichts.

Susanna wurde in der Schweiz geboren, ging hier zur Schule, sprach nie eine andere Sprache als Schweizerdeutsch. Sie hatte nie etwas verbrochen. Trotzdem galt sie seit Geburt als vorläufig Aufgenommene. An einem Mittwoch im Frühling 2021, Susannas Tod ist ein Helvetzid!

Massud Ghaderi

Massud Ghaderi

Nicht gesehen, nicht anerkannt

Von Christoph Keller

Er flüchtete aus dem kurdischen Teil des Irans und war überzeugt, dass die Schweiz ihm die Sicherheit geben würde, die er stets vermisste. Er wurde enttäuscht. Und ging aus dem Leben.

Dann sprang er.

Er sprang auf eine Art, als wollte er seinen Körper mit aller Wucht dem nahenden Vorortszug entgegenwerfen, seinen kräftigen, durchtrainierten Körper gegen einen Zug. Ein Schlag, ein Schrei, und als er zurückgeschleudert wird auf den Perron, beugen sich zwei Ärzte, die zufällig vor Ort waren, über ihn und versuchen, ihn zu stabilisieren, umsonst. Ein zertrümmertes Becken, das ergibt die Obduktion später, die ganze rechte Seite gequetscht, zerschlagen, mehrfache Brüche, Schädeltrauma, die inneren Organe zerrissen. Er übergibt sich, wird intubiert, für kurze Zeit kommt sein Puls zurück, und er stirbt.

Bahnhof Ziegelbrücke, ein Samstag, der 22. August 2020, kurz nach 19 Uhr.

Noch am Nachmittag, erzählte Darya mit ihrer rauen, warmen Stimme ein Jahr später, war er mit Kollegen aus dem Asylzentrum unterwegs gewesen, ein Bier hatte er getrunken, oder zwei; aber betrunken sei er nicht gewesen, nein.

Eine Kurzschlusshandlung, sagte Darya, oder vielleicht auch nicht.

Massoud Ghaderi, wohnhaft gewesen in der Asylunterkunft in Ennenda, Kanton Glarus, aus dem kurdischen Teil des Irans stammend, aus Bukan, einer Provinzstadt ganz im Nordwesten, in die Schweiz eingereist im September 2018. Sein Asylantrag war im Eilverfahren abgelehnt worden, der Rekurs vor Bundesverwaltungsgericht noch hängig.

Sein Suizid machte die kurdischiranische Diaspora in ganz Europa betroffen, die Medien berichteten, und kurdische Aktivistinnen in London, in der Schweiz, im Iran sahen in seinem Suizid ein Zeichen dafür, dass die Schweizer Behörden die Flucht-gründe von Menschen aus dem Iran schlicht übergehen, dass es vielen so geht wie Massoud – sie haben panische Angst vor einer Ausschaffung in den Iran, wo Haft, Verfolgung und Folter drohten.

Darya, sie hat beruflich mit Sprachen zu tun, ist gebürtige Iranerin, sie möchte ihren richtigen Namen aber nicht in der Zeitung sehen, Sie sass mir in ihrer Wohnung gegenüber, der Blick durchs Fenster ging auf grüne Wiesen, hohes Gebirge, voralpine Landschaft. Auf dem Tisch lagen Fotos von Massoud, Fotokopien, und Darya stand immer wieder auf, um in den vielen Aktenstücken nach weiteren Papieren zu suchen, nach Belegen für das, was geschah, und was sie bis heute nicht zu fassen bekommt.

Sie lernte Massoud Ghaderi vor seiner Erstbefragung beim Staatssekretariat für Migration kennen, seine Schwester hatte Darya gebeten, Massoud ein wenig zu erklären, worauf es bei dieser Befragung ankommt. Dass man alles erzählen muss, alles, und dass man keine Fehler machen darf, nicht bei den Daten, nicht bei den Orten, und keine Widersprüche in den Erzählungen. Dass er detailreich erklären muss, was es heisst, im Iran ein Kurde zu sein, dass er erzählen soll von den Haftbefehlen, wegen «Beleidigung des iranischen Staates», wegen «Bruch der Ehe».

«Aber dann?», fragte ich Darya.

«Dann ist er nach Bern gegangen und hat eben nur einen Teil der Geschichte erzählt, nicht das Ganze.»

«Warum?»

«Massoud war sensibel, verletzlich, aber auch sehr stolz. Und er ging davon aus, dass man ihn in der Schweiz mit Respekt behandeln würde, nicht so, wie im Iran, als er ins Gefängnis geworfen wurde, ausgepeitscht, weil in seinem Auto drei Dosenbier gefunden wurden. Er dachte, hier in der Schweiz würde man seine Würde respektieren, und so glaubte er, es reiche, wenn er einige Geschichten seiner Verfolgung schilderte, dass es nicht alle brauchte.»

«Dann kam der negative Entscheid.»

«Es war eindeutig, dass Massoud eine depressive, eine traurige Seite hatte. Aber an dem Tag, als der negative Entscheid kam, ist er zusammengebrochen, so richtig. Er hat mich angerufen, hat gesagt, kommst du sofort, bitte, er schickte mir ein Foto der ersten Seite des Entscheids. Und ich nichts wie los, mit dem Auto nach Ziegelbrücke, da traf ich ihn an, und er redete nur noch davon, dass er sich umbringen will.»

Darya erkennt, als sie Massoud an diesem Tag am Bahnhof Ziegelbrücke antrifft, dass sie hier eine besondere Verantwortung hat, dass sie um sein Leben kämpfen muss.

Um Massoud, dem sich die Sätze im erstinstanzlichen Entscheid festgesetzt haben:

«Es ist davon auszugehen, dass die geltend gemachten Verfolgungsmassnahmen frei erfundene Konstrukte sind» und «Ausserdem lassen sich Dokumente aus dem Iran vergleichsweise leicht fälschen bzw. können käuflich erworben werden» und «Es bleibt festzuhalten, dass Sie zwar angeblich einen Haftbefehl und Droh-SMS bekommen haben, aber diese Beweismittel nicht beibringen können» und was seine psychische Labilität angeht bestehe immer die Möglichkeit «dieses Verhalten nachzuahmen und so zu einem Aufenthaltsrecht in der Schweiz zu gelangen.»

Folglich sei «Der Vollzug der Wegweisung in den Iran als zumutbar zu erachten.»

Das Durchgangszentrum für Asylsuchende, in dem Massoud Ghaderi zuletzt gelebt hat, ist ein grosses, einladendes Haus auf einem kleinen Hügel am Rande von Ennenda, sozusagen die Agglomeration von Glarus. Rundherum stotzige Felswände, inneralpine Enge, in der Nachbarschaft Gewerbe, Einfamilienhäuser, fein geputzte, menschenleere Trottoirs. Aber vor dem grossen Haus plötzlich Leben, als ich ankam sassen unter der Linde im Garten Frauen und Männer, die Deutschvokabeln büffelten, in der Küche schepperten die Töpfe, von irgendwoher helles Lachen.

Christine Saredi, kurzes, leicht angegrautes Haar und markante Brille, hat gezögert, ob sie über den Fall Massoud nochmals sprechen wollte; zu sehr hat der Suizid sie, die Asyl- und Flüchtlingskoordinatorin des Kanton Glarus, und ihr Team mitgenommen, hat schmerzliche Spuren hinterlassen.

Nun aber erzählte sie, vielleicht auch, weil sie klarstellen wollte:

Dass der Umgang mit Menschen auf der Flucht hier im Glarnerland ein anderer sei als anderswo, betonte sie einleitend, man habe ein Konzept entwickelt, beispielsweise, um Menschen im Asylverfahren möglichst früh in den Arbeitsmarkt zu integrieren, die Unternehmen im Tal seien froh darum. Und man verfüge über gute, ansprechende Unterkünfte, keine Bruchbuden, und man sei über weite Strecken offen für die Menschen, die es hierher verschlagen habe, es gebe Treffpunkte. Das sogenannte Glarner Integrationsmodell sei erfolgreich und werde in anderen Kantonen nachgeahmt, sagte mir Christine Saredi, und sie erwähnte auch die verschiedenen Treffpunkte im Kanton, bei denen sich Menschen im Asylverfahren und die Einheimischen begegnen könnten.

Hier, in diesem Umfeld, lernt Massoud schnell Deutsch, wird Hauswart im Durchgangszentrum, übernimmt Verantwortung für die ganze Technik, beginnt dann als Fahrer beim hausinternen Dienst, ist mit dem Lieferwagen unterwegs. Und in seiner Freizeit findet er Anschluss in der Ringerriege beim Turnverein Tuggen, geht regelmässig trainieren, kann seine Technik weiterentwickeln. Und schmiedet Pläne, spricht davon, dass er in der Schweiz eine Ausbildung zum Buschauffeur machen will, das ist sein Traum.

Bis zum Entscheid.

Christine Saredi nimmt die Veränderung wahr, sie spürt, dass da etwas zerbrochen ist, nimmt Massoud beiseite zum Gespräch. Versucht, ihm klar zu machen, dass es Lösungen gibt, den Rechtsweg zunächst, dass er eine Ausschaffung nicht zu fürchten habe.

«Aber das hat nichts genützt?»

«Er war nach dem erstinstanzlichen Entscheid sehr angeschlagen, keine Frage. Wir haben ihn dann zum Hausarzt geschickt, wir haben für ihn eine Psychotherapie organisiert, und ich habe ihm gesagt, hör zu, Massoud, du musst nicht zurück.»

«Er hat sich irgendwie verraten gefühlt.»

«Das kann ich nicht beurteilen, ich sehe die Asylentscheide ja nicht. Aber es gab sicher etwas, das hat das Fass zum Überlaufen gebracht.»

«Und dann?»

«Ehrlich gesagt, habe ich nicht damit gerechnet, dass er sich etwas antut, er war ja in Behandlung. Wir wussten zwar, und das war sicher ein Alarmzeichen, dass er alle Beziehungen nach und nach abgebrochen, auch zu Darya, auch zu mir, er war irgendwann mal nicht mehr erreichbar. Aber wir dachten nicht, dass er so weit gehen würde.»

Auch Marco Lo Presti, nicht, Leiter der Beschäftigungsprogramme.

Marco Lo Presti, der mit Massoud mit dem Lieferwagen unterwegs ist, Möbeltransporte von einer Unterkunft zur anderen, Umzüge, Räumungen. Massoud, der ganze Schränke alleine stemmt, ganze Tische, ein Kraftpaket. Der am Steuer des Lieferwagens sitzt und sich freut, dass er fahren kann, oft schweigsam, manchmal erzählt er auch. Berichtet von seiner Zeit im Iran, von seiner Flucht und davon, dass dieser negative Asylentscheid ein riesiger Frust sei, dass er das Gefühl habe, nicht wirklich gebraucht zu werden in diesem Land Schweiz.

Einer, vor dem alle Respekt haben im Tal, den alle mögen, immer zuverlässig, er kann es mit allen. Nie kommt ein lautes Wort von ihm, er hat eine eigene, irgendwie sanfte Autorität. Massoud, der auch bei einem Streit im Asylzentrum nie körperlich eingreift, trotz seiner Muskelpakete, der sagt, er sei nicht in die Schweiz gekommen, um hier Methoden wie im Iran anzuwenden.

Und ja:

Ein talentierter Ringer sei er gewesen, sagte mir Hansruedi Ulrich, Vorstandsmitglied bei der Ringerriege STV Tuggen, er habe grosses Potential gehabt. Nur noch ein paar Monate, und er hätte Mitglied werden können bei Swisswrestling, hätte Wettkämpfe bestreiten können, im Kader.

Doch dann der Entscheid.

Damals, am Bahnhof Ziegelbrücke, erzählte Darya, als Massoud davonläuft, quer über die Strasse, einfach davon, als er sagt, er bringe sich um:

Telefoniert Darya hierhin, dorthin, kontaktiert die Asylbehörde in Glarus, telefoniert sich durch, kriegt schliesslich einen Mitarbeiter ans Telefon. Der setzt sich ins Auto und findet Massoud, kann ihn überreden, mit in die Psychiatrie zu fahren. Dort hält die Assistenzärztin, die ihn untersucht, fest, Massoud habe «heute einen negativen Asylentscheid erhalten und ist akut suizidal.» Seit einem Jahr hätten «die Suizidgedanken zugenommen, und er habe schon über verschiedene konkrete Methoden nachgedacht, aber nie einen Versuch gemacht. Sich jedoch nie dazu entschieden, weil er etwas Hoffnung habe, nun habe er keine Hoffnung mehr und kann nicht garantieren, dass er sich nicht das Leben nimmt.»

Man verbringt ihn in die Klinik Waldhaus, in Chur.

Und dort wird tags darauf die Diagnose erstellt, der Patient «könne sich im Gespräch glaubhaft von Suizidalität distanzieren», er habe «einfach Angst, dass er zurück in sein Heimatland geschickt wird.»

Marco Lo Presti holt ihn in Chur ab.

Er sagt, er gebe sich vier Wochen. Wenn sich bis in vier Wochen nichts an seiner Situation ändere, werde er es tun.

Darya weiss, dass sich Massoud gut verstellen kann, er kann schauspielern, wenn es darauf ankommt. Sie kümmert sich, schaut, dass sie ihn am Wochenende regelmässig sieht, nimmt ihn bei sich auf.

Achtet darauf, dass er sich wieder meldet bei seiner Schwester.

Bei seiner Schwester, die mir über eine Zoomschaltung ruhig und klar schilderte, dass die Kurden im Iran diskriminiert und verfolgt werden, sie erzählt von systematischer Folter, willkürlichen Verhaftungen und Erschiessungen, von der Hinrichtung Intellektueller und Aktivistinnen, und dass das endlich anerkannt werden müsse. Und diese Diskriminierungen habe Massoud, der schon als Junge feinfühlig gewesen sei, ein nachdenklicher, stiller Mensch, aufmerksam wahrgenommen. Erschwerend sei gewesen, erzählte sie, dass der Vater sich an die Regierung verkauft hatte, für den Geheimdienst, ein überaus strenger, autoritärer Mensch, während die Mutter, von Beruf Lehrerin, den Kindern alle Liebe gegeben habe. Massoud sei im dauernden Streit mit seinem Vater gewesen, und vieles, was sich später ereignet habe, führe sie auf diesen Konflikt zurück, sagte seine Schwester. Dass er sein Studium abgebrochen habe, trotz bester Noten, dass seine Ehe in Brüche ging, all diese Dinge.

«Dinge, über die er bei seiner ersten Befragung nichts erzählt hat?»

«Ja, aus Stolz, weil Massoud war auch ein stolzer Mensch.»

«Die Asylbehörden haben das nicht verstanden.»

«Nein, haben sie nicht. Sie haben nicht verstanden, dass er bestimmte Ereignisse nicht erzählen wollte, aus persönlichen Gründen. Sie haben ihm aus Detailfragen einen Strick gedreht, nur, weil er ehrlich genug war zu sagen, er könne sich nicht genau erinnern, an Daten, an Orte. Sie müssen wissen, dass Massoud ein grundehrlicher Mensch war.»

«Und er hat erwartet, dass das auch anerkannt wird.»

«Ja, aber was soll man tun, wenn ein System nicht halten kann, was es verspricht?»

Vier Wochen, er hält daran fest.

Immerhin erreicht Darya, dass er gegen den erstinstanzlichen Entscheid Beschwerde erhebt, beim Bundesverwaltungsgericht. Dass er im neuen Verfahren die ganze Geschichte erzählt, nicht nur Fragmente, nicht nur das, was sein Stolz zulässt, sein Eigensinn.

Alles, was ihm widerfahren war, steht dann in der Beschwerdeschrift, sorgfältig zusammengestellt von der Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende, seine Geschichte:

Die überstürzte, sehr frühe Heirat, mit knapp über zwanzig, er konnte das Brautgeld nicht bezahlen, und nachdem die Ehe in Brüche ging, hat der Bruder seiner Frau begonnen, das Brautgeld einzufordern. Nicht für die Familie, sondern für eine Miliz, für die er tätig war. Der Bruder seiner Frau erreicht, dass gegen Massoud ein Haftbefehl wegen Bruchs der Ehe ausgesprochen wurde. Sein Vater, das führende Kadermitglied des iranischen Geheimdienstes, liess ihn mit seinen Problemen allein, und Massoud, auf sich alleine gestellt, überfordert, konnte jederzeit festgenommen werden. Es begann mit der Verurteilung wegen Alkoholbesitzes, drei Monate im Gefängnis, er wurde drangsaliert, gefoltert, und als er herauskam, gingen die Schikanen weiter. Er lebte monatelang in seinem Auto, immer unterwegs, Massoud musste seinen Job in einem Geschäft für Haushaltgeräte aufgeben, er wurde verfolgt. Ein Auto stellte sich ihm in den Weg, mitten in der Nacht, er konnte gerade noch entkommen, immer wieder ein anderes tauchte auf, das ihn stundenlang verfolgte. Dann ein weiterer Haftbefehl wegen «Nichtbezahlung des Brautpreises», ein anderer wegen «Beendigung der Ehe», noch einer wegen «Verleumdung, Beleidigung und Verbreitung von Lügen sowie Beleidigung der Heiligkeit der Islamischen Republik Iran und der schiitischen Religion», er entschied sich zur Flucht.

Im Beschwerdeverfahren bringt Massouds Anwalt alle Dokumente bei, beglaubigte Kopien und Übersetzungen der Haftbefehle, der Gerichtsurteile. Dazu weitere Unterlagen über die Unterdrückung der Kurden im Iran, und warum Massoud wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit als Kurde einer ständigen, schweren und systematischen Erschwerung der Lebensumstände ausgesetzt war, alles minutiös aufgeführt. Auch die detaillierten Umstände der Flucht, mit dem Auto zur Grenze, im Lastwagen versteckt quer durch die Türkei, dann hinter Paletten verborgen auf einem Sattelschlepper bis in die Schweiz.

Und der Anwalt weist im Beschwerdeverfahren auf einen Umstand hin, den Massoud in der ersten Befragung nicht vorgebracht hatte, weil er annahm, das sei seine Privatsache: seine Konversion zum Christentum. Der Beschwerdeschrift beigelegt ein Taufschein der Freien Evangelischen Kirche Ennenda, dazu die Begründung, warum Massoud als Christ bei einer allfälligen Ausschaffung in den Iran nun besonders gefährdet wäre.

Massoud, der zwischenzeitlich eine Therapie angefangen hat, tut alles, um den Anforderungen der Asylbehörden nachzukommen. Aus seiner Sicht, so formuliert es Darya, ist nun alles offen und ehrlich dargelegt.

Aber es kommt anders.

Das Staatssekretariat für Migration argwöhnt in seiner Vernehmlassung zur Beschwerde zunächst, es sei nicht nachvollziehbar, «warum der Beschwerdeführer diese Dokumente erst nach dem Erlass des Entscheides einreichte» und mutmasst, es komme der Verdacht auf, «dass die Dokumente im Zeitpunkt des Entscheides noch gar nicht existierten und erst auf Beschwerdeebene hergestellt wurden», also gefälscht seien. Zudem sei es, was die Konversion zum Christentum angehe, «schleierhaft, warum der Beschwerdeführer dieses Vorbringen erst jetzt geltend macht, zumal die Anhörung erst nach dessen Konversion stattfand», woraus das Staatssekretariat schlussfolgert, dieses Vorbringen diene allein dazu, «den Wegweisungsvollzug zu verhindern», und überhaupt sei unklar, inwiefern «die Zuwendung zum Christentum aus innerer Überzeugung und nachhaltig erfolgt sei.»

Darya in ihrer Wohnung, draussen der Blick auf den Alpenkamm, sie musste tief Luft holen.

«Weisst du, er hat sein Land so sehr geliebt, es fiel ihm so schwer, aus dem Iran zu flüchten, und dann kommt er hier an, und es heisst, er sei unglaubwürdig.»

«Trotz der beigebrachten Dokumente.»

«Sie haben die als Fälschungen abgetan, ja. Obwohl die Originale das Wasserzeichen haben, den Stempel des Gerichts, die Unterschriften. Schau es dir selbst an, das kann nicht gefälscht werden, und wir haben es ja beglaubigen lassen, mehr konnten wir nicht tun. Und die schreiben einfach, das seien Fälschungen. Das hat ihn fertig gemacht.»

«Weil er nochmals Hoffnung geschöpft hat.»

«Ja, irgendwie schon. Weil ich ihn zur Beratungsstelle nach Zürich gebracht habe, weil ich gesagt habe, schau, wenn die bereit sind, deinen Fall weiterzuziehen, dann hast du eine Chance. Die Dokumente liegen vor, die belegen alles, wirklich.»

Massoud wartet auf ein positives Zeichen, stattdessen ein Aktenstück nach dem anderen, auf dem steht «unglaubwürdig».

Darya muss ihn jetzt drängen, damit sie ihn sehen kann, an den Wochenenden, tagelang meldet er sich nicht, kapselt sich ein. Er verpasst seine Termine bei der Therapie, und wenn Darya ihn erreicht, spricht er davon, dass er nichts mehr geniessen könne, nicht das Essen, nicht die Luft, nicht die Menschen, gar nichts. Und geht doch seiner Arbeit nach, mit Marco Lo Presti im Lieferwagen, lässt sich dort kaum etwas anmerken, kann seine tiefe Traurigkeit immer wieder überspielen, am Steuer des Lieferwagens.

Am Freitag geht er ein letztes Mal zur Therapie und sagt, er brauche keine Behandlung mehr, er möchte aufhören.

Der Freitag ist Daryas Geburtstag, er meldet sich nicht.

Dann der Samstag, wenig Tage nach den gesetzten vier Wochen.

Was hat den Ausschlag gegeben.

War es der Hinweis, der in iranischen Exilkreisen die Runde macht und bis zu ihm durchdringt: dass das Staatssekretariat für Migration die Angaben und Beweismittel von Geflüchteten aus dem Iran durch einen «Vertrauensanwalt» in Teheran überprüfen lässt. Durch Said Hassan Amirshahi, Inhaber einer Anwaltskanzlei, spezialisiert unter anderem auf die «Verifizierung, Überprüfung der Rechtsmässigkeit, Zertifizierung und Authentifizierung von Dokumenten, Fotos und Unterschriften», Amirshahi, der regelmässig für die Regierung Irans arbeiten soll, unter anderem für ihre Vertretung in Genf, der offiziell als «Vertrauensanwalt» Österreichs in Teheran aufgeführt wird.

Er springt.

Darya erfährt erst am Montagnachmittag von seinem Suizid, der damalige Leiter des Zentrums in Ennenda hält es nicht für nötig, sie und Massouds Schwester gleich zu kontaktieren.

Darya bricht zusammen, sie glaubt, ihr Herz stehe gleich still, in der Nacht ruft sie den Notfall, ihr Kreislauf spielt verrückt.  Sie braucht mehr als ein Jahr, um sich ein wenig zu erholen, wieder zu Kräften zu kommen.

Bei der Beerdigung auf dem Kirchhof in Ennenda kommen Bekannte und Freunde aus dem Tal, kurdische Freunde, die Mitbewohner aus dem Asylzentrum, die Ringerriege TV Tuggen hat eine Delegation geschickt.

Eine schlichte, bewegende Feier, die einzig gestört wird durch eine unbekannte Frau, die vorgibt, sie handle im Interesse von Massouds Vater in Bukan, sie fordere seinen Leichnam, um ihn im Iran zu begraben; Christine Saredi wird auf sie aufmerksam und geleitet sie weg, macht ihr klar, dass Massouds Wunsch, in der Schweiz begraben zu sein, befolgt werde.

Am 11. September findet vor dem Sitz des Staatssekretariats für Migration in Bern eine Gedenkdemonstration statt. Die Anwesenden, Kurdinnen und Kurden aus dem Iran, befreundete Menschen aus der Schweiz, wollen vom Staatssekretariat unter anderem wissen, was unternommen werde, «um Selbstmorde von Menschen mit einem negativen Asylentscheid zu verhindern», und was getan werde, «um die Würde, den Respekt und die Gleichberechtigung von Menschen mit einem Negativentscheid sicherzustellen».

Das Staatssekretariat hat sich nicht gemeldet, um den Fall aufzuarbeiten, um vielleicht ein paar Lehren daraus zu ziehen, weder bei Christine Saredi, noch bei Darya oder bei Massouds Schwester.

Suizide von Menschen im Asylverfahren, schreibt das Staatssekretariat für Migration auf Anfrage, werden statistisch nicht erfasst, man nehme aber alle Arten von Signalen ernst, und ja, suizidale Absichten könnten «durchaus Einfluss haben auf den Asylentscheid».

Nicht bei Massoud Ghaderi.

Nach wie vor werden drei Viertel der Asylgesuche aus dem Iran abgelehnt.