Helvetzide

Helvetzide sind systematische Todesursachen von rassifizierten Menschen, die in polizeilicher Untersuchungshaft, in Flüchtlingszentren und in Spitälern in der Schweiz stattfinden. Und diese Tötungen sind nicht einfach Einzelfälle. Sie sind Ausdruck des strukturellen Rassismus und der herrschenden Ausschaffungspolitik, welche die Schweizer Gesellschaft und die staatlichen Institutionen prägen. Wir fordern das Ende rassistischer Gewalt!

#SayTheirNames

Wir sind wütend und trauern um jene, die weltweit durch rassistische Polizeigewalt ums Leben gekommen sind. Wir trauern nicht nur um George Floyd, Tony McDade, Breonna Taylor oder Ahmaud Arbery, die in den letzten Wochen in den USA von Polizist*innen oder durch Bürgerwehren getötet wurden. Wir trauern nicht nur um die vielen Menschen, die in anderen Ländern ums Leben gebracht wurden, wie Achidi John, Laya-Alama Condé, Ndeye Marieme Sarr, Christy Schwundeck, Yaya Jabbie oder Amad Ahmad und Oury Jalloh in Deutschland. Wir trauern auch um jene Menschen, die in der Schweiz durch rassistische Gewalt getötet wurden, wie Khaled Abuzarifa, Samson Chukwu, Cemal G., Hamid Bakiri, Claudio M., Yaya Bakayoko, Ousman Sow, Alhusein Douto Kora, Mariame Souaré, Abdi Daud, Andy Bestman, Joseph Ndukaku Chiakwa, Medina Yassin Suleyman, Oleg N., Ilhan O., Hervé Mandundu, Subramaniam H., Lamin Fatty, Mike Ben Peter, Salah Tebbouche, Roger Nzoy, Sezgin Dağ, Nesurasa Rasanayagam und viele andere. Die meisten rassistischen Gewaltvorfälle werden nie öffentlich bekannt, viele werden zudem unsichtbar gemacht. Für Personen, die diese Gewalterfahrungen erleben müssen, bestehen jedoch kaum Möglichkeiten, dass ihre Erlebnisse gehört, und die Verantwortlichen sanktioniert werden.

Wir fordern

  • dass sämtliche bisherigen Todesfälle in Folge von Polizeieinsätzen, auf der Polizeiwache in Polizeigewahrsam und in Flüchtlingszentren durch eine unabhängige, speziell dafür eingesetzte Expert:innen-Kommission untersucht werden. Diese Kommission muss befähigt sein alle beteiligten Personen und Institutionen sowohl ethisch als auch juristisch zur Verantwortung zu ziehen sowie Wiedergutmachung durchzusetzen;
  • dass eine zivilgesellschaftliche, unabhängige Stelle gegen Polizeigewalt staatlich finanziert wird, um Racial Profiling und Fälle von Polizeigewalt systematisch zu erfassen;
  • einen sofortigen Stopp aller Ausschaffungen sowie die Abschaffung der Administrativhaft und des Nothilferegimes

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Todesfälle durch institutionellen Rassismus

Nesurasa Rasanayagam

Nesurasa Rasanayagam

Am 15. Februar 2022 wurde Nesurasa zuletzt von einem Zimmermitbewohner gesehen. Sein Leichnam wurde erst am Freitag darauf auf dem Feld ungefähr 500m vom Rückkehrlager Gampelen entfernt gefunden. Erst nach zwei Wochen Druck auf die Behörden durch Mitglieder von Stop Isolation wurde Nesurasas Tod der Familie offiziell von den Schweizer Behörden mitgeteilt. Ohne die genaue Todesursache und den Todeszeitpunkt zu kennen, liessen die Behörden den Leichnam von Nesurasa kremieren, obwohl seine Familie dies ausdrücklich nicht wollte! Dem Wunsch der Familie, eine Autopsie durchzuführen und den Leichnam nach Sri Lanka zu transportieren wurde nicht nachgegangen: dies war laut dem Migrationsdienst zu teuer. Nesurasa war verheiratet und hatte drei Kinder. Als illegalisierte Person durfte er nicht arbeiten. Für Nesurasas Freund:innen und Familie steht fest, dass die zuständigen Behörden und das Schweizer Asylsystem mitverantwortlich für seinen Tod sind. Nesurasas Tod ist ein Helvetzid!

Roger Nzoy

Roger Nzoy

Roger Nzoy traf es am 30. August 2021 am Bahnhof Morges. Der 37-jährige Schwarze Mann aus Zürich litt an psychischen Problemen und war an jenem Montagabend zur Stosszeit auf den Gleisen herumspaziert. Jemand verständigte die Polizei. Als diese eintraf, schoss dreimal auf ihn. Videos dokumentieren den tödlichen Vorfall. Und zeigen auch die Momente nach den Schüssen: Während vier Minuten wird Roger Nzoy nicht reanimiert, ihm werden Handschellen angelegt. Der Tod von Roger Nzoy erinnert an einen anderen Schwarze Mann, fast identischen Fall: Im November 2016 erschoss dreimal ein Polizist in Bex Hervé Mandundu vor dessen Wohnungstür. Nzoys Tod ist ein Helvetzid!

Salah Tebbouche

Salah Tebbouche

Am 30. Dezember um 8.30 Uhr wird Saleh T.* in einer Zelle im Basler Gefängnis Bässlergut tot aufgefunden. Es handelt ich um einen Helvetzid. Das Bässlergut ist einerseits Ausschaffungsgefängnis, andererseits sitzen hier Inhaftierte kurze Haftstrafen ab. Djafar Mohammed kannte Saleh T. so gut, dass er ihn «einen Freund» nennt. Bei einem Gefängnisbesuch Mitte Januar sagt er: «Saleh war eine herzliche Person.» Saleh T. und Mohammed teilten sich im vergangenen Jahr eine Zelle im Basler Gefängnis Waaghof. Sie hätten damals jeden Tag Karten gespielt, erzählt er. T. habe aber auch oft still dagesessen, manchmal habe er im Koran gelesen, manchmal geweint. Djafar Mohammed wurde mittlerweile nach Spanien ausgeschafft. Mehrere Inhaftierte sagen bei Problemen würden vor allem Medikamente angeboten. Oft verstehe man gar nicht, was man bekomme. Manche trauten den Angaben nicht, weil sie ihre Medikamente nie verpackt sähen. Salahs Tod ist ein Helvetzid!

Mike Ben Peter

Mike Ben Peter

Mike Ben Peter stirbt am 28. Februar 2018 in Lausanne, nachdem sechs Polizisten minutenlang auf ihn knien. Sechs Minuten liegt der Nigerianer Mike Ben Peter nahe des Lausanner Bahnhofs mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt. Auf ihm das Gewicht von sechs Polizisten, die ihn zu Boden drücken. Zuvor sollen die Beamten ihn solange in die Genitalien getreten haben. Mike Ben Peter erleidet vor Ort im Beisein der Polizisten einen Zusammenbruch. Zwölf Stunden später stirbt er im Universitätsspital an einem Herzstillstand. Der Fall weist frappierende Ähnlichkeit zum Tod von George Floyd (†46) in Minnesota (USA) auf, der in der ganzen Welt zu Massenprotesten führt. Mikes Tod ist ein Helvetzid!

Lamin Fatty

Lamin Fatty

Lamin Fatty war ein 23-Jähriger, als er am 24.10.2017 in einer Schweizer Zelle in Mont-sur-Lausanne durch einen Helvetzid starb. Lamins Tod ist ein Helvetzid!

Subramaniam H.

Subramaniam H.

Der seit 2015 auf sein Asylgesuch vom SEM (Bundesamt für Migration) wartende Subramaniam H. wurde am 06.10.2017 vom einem Tessiner Kantonspolizist in Brissago durch einen Schuss in die Brust getötet. Subramaniams Tod ist ein Helvetzid!

Susanna mit 18

Susanna mit 18

Susanna drohe die Ausschaffung. Sie wisse nicht mehr weiter. Sie möchte endlich eine Antwort auf die Frage, die sie seit Jahren beschäftigt: «Wieso habe ich nicht die gleichen Rechte wie alle anderen?»

Fünf Tage vor ihrem 16. Geburtstag schreibt ihre Psychiaterin dem Migrationsamt Thurgau einen Brief. Susanna habe massive Zukunftsängste, die vor allem mit ihrem Aufenthaltsstatus zu tun hätten. «Aus fachärztlicher Sicht empfehlen wir eine definitive Aufenthaltsbewilligung für Susanna, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich psychisch zu stabilisieren und die Aufgabe ‹Leben› gut meistern zu können.»

Das Migrationsamt lehnt das Gesuch ab. Es sei wohl der zehnte negative Bescheid gewesen, sagt Susanna. Jedes Jahr mit derselben Begründung. Da sie minderjährig ist, wird ihr Gesuch an jenes ihrer Mutter gekoppelt. Wegen Sozialhilfeschulden und kleinerer Delikte erfüllt die Mutter die Voraussetzungen für eine reguläre Aufenthaltsbewilligung nicht. Daran ändern auch die Rekurse der Anwälte nichts.

Susanna wurde in der Schweiz geboren, ging hier zur Schule, sprach nie eine andere Sprache als Schweizerdeutsch. Sie hatte nie etwas verbrochen. Trotzdem galt sie seit Geburt als vorläufig Aufgenommene. An einem Mittwoch im Frühling 2021, Susannas Tod ist ein Helvetzid!